· Selbstbild und Ich-Ideal ·

Kaum Mitte Januar und schon gehen die ersten Neujahrs-Vorsätze über Bord? Was, wenn das gar nicht so schlecht ist?!

Die meisten Menschen haben sie: Die guten alten Neujahrs-Vorsätze. Viele dieser Vorhaben gleichen sich dabei auffällig und wiederholen sich von Jahr zu Jahr: Abnehmen, mehr Sport treiben, Ordnung auf dem Schreibtisch halten, immer achtsam sein und endlich mit dem Rauchen aufhören…

Klingt alles prima, ist alles wichtig und überaus vernünftig. Und doch werden die meisten Vorsätze nicht umgesetzt. 

Erst sind wir motiviert und wollen sofort loslegen, dann kommen alte Gewohnheiten oder einfach das Leben dazwischen und am Ende sind wir desillusioniert und fühlen uns schwach und versagend. Manchmal schämen wir uns auch. 

Was passiert da? Strengen wir uns nicht genug an und geben zu schnell auf? Fehlt es uns so sehr an Willensstärke und Disziplin? 

Könnte man denken, aber was, wenn das Aufgeben mancher Ziele seelisch logisch oder sogar gesund ist?

Wunsch nach dem Perfekten

Von außen betrachtet wirken diese Neujahrs-Vorsätze oft unrealistisch oder gar perfektionistisch. Sie entsprechen dem, was wir in der Psychoanalyse Ich-Ideal nennen. Dieses stellt eine Art inneres Vorbild dar, welchem wir uns anzunähern versuchen und mit dem wir uns messen. Der Wunsch, diesem Ideal zu entsprechen, kann uns antreiben und positiv motivieren. Problematisch wird es allerdings, wenn es einer selbstwertdienlichen Größenvorstellung entspricht, also einem grandiosen Selbstbild, das weder realistisch noch lebbar ist. So ein Größen-Selbst dient nämlich eher dazu, die in der Entwicklung natürlichen, aber schmerzhaft erlebten Entbehrungen, Verluste und Kränkungen, die während des Heranwachsens unvermeidlich sind, auszugleichen. Unvermeidlich sind solche Erfahrungen deshalb, weil keine Eltern, keine sozialen Systeme, keine Beziehungen perfekt sind und alle Bedürfnisse abdecken können. Das kann schmerzhaft und schwierig sein! Deswegen stellt es eine wichtige Entwicklungsaufgabe dar, diese idealen Ansprüche an sich und die Welt und die damit verbundenen Fantasien zu relativieren und anzupassen. Manchmal scheitern wir daran.

Selbstoptimierung als gescheiterter Integrationsprozess

So wie Oliver, ein zielstrebiger Junior-Manager, der mir in einer der ersten Sitzungen stolz von seiner Motivation für die Therapie erzählt. Sie sei ein wichtiger Schritt auf seinem Weg zur Selbstoptimierung. Die noch vorhandenen Fehler und Schwächen will er damit endlich loswerden. 

Vieles in seinem Leben scheint Oliver tatsächlich mit Leichtigkeit zu gelingen. Stets war er das Lieblingskind seiner Mutter, während sein Bruder schon früh die Erwartungen der gut situierten und beruflich erfolgreichen Eltern enttäuschte. Die Anerkennung, die Oliver dafür erhält, ist er längst gewohnt. Wie sehr er diese seelisch benötigt und wie unsicher er wird, wenn die positive Spiegelung einmal ausbleibt, tritt deutlich zu Tage, als ihm, quasi zum ersten mal in seinem Leben, ein Schritt nicht gelingt. Bei einer erhofften Beförderung wird ein Kollege vorgezogen. Für Oliver bricht damit eine Welt zusammen und besonders schmerzhaft wird es für ihn, als er anfängt, die mit seiner bisherigen Lebensstrategie verbundene innere Erschöpfung zu spüren und zuzulassen.

Entgegen seiner ursprünglichen Vorstellung setzt sich Oliver nun damit auseinander, wer er eigentlich jenseits des Perfekten ist. Wird er auch gemocht und angenommen, wenn er nicht so glänzt? 

Er reflektiert die Beziehung zu den Eltern, v.a. zur Mutter, die ihn bis heute idealisiert und nur schwer loslassen kann. Die Frage, ob er sich selbst für liebenswert hält, wenn nicht dem idealen Mann und Sohn entspricht, ist die wohl kniffeligste in seinem bisherigen Leben, denn diese lässt sich nicht durch Leistung und Anpassung lösen.

Speziell der Vergleich mit seinem Bruder, dieser ist schließlich weniger erfolgreich und attraktiv als er, stattdessen ein wenig verpeilt und unangepasst, macht ihm zu schaffen. Ständig ist Oliver wütend auf ihn und muss ihn schlecht machen. Schließlich kommt er nicht umhin, anzuerkennen, dass es womöglich genau das Imperfekte ist, was den Bruder entspannter und zufriedener sein lässt. Eine schmerzhafte, aber auch wichtige und entwicklungsfördernde Erkenntnis!

Irgendwann kann Oliver sich die Frage stellen, ob es eine dem Bruder  ähnliche Seite auch in ihm gibt und wenn ja, was mit dieser geschehen ist. Es scheint besonders auffällig, wie unterschiedlich sich die Brüder entwickelt haben. Als ob bestimmte Anteile zwischen ihnen aufgeteilt worden sind. Einerseits Oliver, der Erstgeborene, der von Anfang an die hohen Ansprüche der Eltern erfüllt, dafür viel Anerkennung erhält, sich aber auch nicht frei entwicklen kann. Auf der anderen Seite der jüngere Bruder, der schon immer „anders“ war, sich aber weit weniger von den realen und verinnerlichten Ansprüchen der Eltern gefangen fühlt.

Langsam entwickelt Oliver neue Ziele: er möchte herausfinden, was ihn ausmacht und was seinen Wert als Mensch bestimmt. Er möchte bisher abgewehrte innere Anteile kennen lernen, beleben und integrieren. Seine Idee der Selbstoptimierung ist einer Vorstellung von einem passenderen, bunten Selbstbild gewichen. 

Und das zeigt sich auch im Außen: Oliver beginnt, sich von den Eltern zu lösen, indem er sich nicht mehr ihren Ansprüchen unterwirft und aufhört, der perfekte Sohn zu sein. Dadurch fordert er sie indirekt auf, die Idealisierung seiner Person aufzugeben.

Aufgabe idealer Vorstellungen als Entwicklungschance

Und so ähnlich kann es sich auch mit gescheiterten Neujahrs-Vorsätzen verhalten. Einem frühen, überzogenen, unrealistischen Größen-Selbst hinterher zu hecheln, macht im schlimmsten Falle krank und verhindert eine positive Entwicklung im Hier und Jetzt. Ein förderliches Selbstbild hingegen integriert neben all unseren erwünschten positiven Eigenschaften auch Widersprüche, Schwächen und Grenzen. 

Um es mit den Worten von Erick Kästner zu sagen:

„Es nützt nicht viel, sich rot zu schämen,

es nützt nichts und es schadet bloß,

sich tausend Dinge vorzunehmen.

Lasst das Programm und bessert euch drauflos.“ *

* aus `Vorsätze fürs neue Jahr` von Erich Kästner (1899-1974)