· Abwehrmechanismus  Externalisierung ·

Plätzchen, Kerzen, Last Christmas, problembeladene Therapiesitzungen,…

Diese alljährliche Weihnachtsplaylist, bekommt in diesem Jahr durch Corona besondere Untertöne.

Weihnachten und die Zeit davor sind immer eine spezielle Zeit, natürlich auch in den Therapien. Hier verdichten sich alle Themen rund um Familie und Partnerschaft: Konflikte, Wünsche, Sehnsüchte und Sorgen. 

Und doch war es in diesem Jahr noch anders, irgendwie zugespitzter. Warum ich darin auch eine Chance sehe, möchte ich Euch anhand eines Beispiels aus meiner Praxis erläutern.

Leonie, eine sonst recht aufgeweckte Studentin, sitzt mir an diesem Tag starr gegenüber und verkündet, dass sie dieses Jahr Weihnachten leider nicht zu ihrer Familie fahren kann, da sie ihre Eltern nicht durch eine mögliche Covid-Ansteckung gefährden will. Obwohl ihr die offiziellen Auflagen und Beschränkungen Recht geben, machen die Eltern ihr nun schlimme Vorwürfe. Das kann Leonie nicht verstehen und beschwert sich bei mir über diese Ungerechtigkeit. Sie weint und fragt mich immer wieder „Warum machen es mir meine Eltern so schwer?“

Ihr wisst ja schon, dass es in der Psychotherapie meist nicht förderlich ist, direkt auf  Fragen zu antworten, und da ich ahne, dass hier nicht das Virus das eigentliche Problem darstellt, frage ich Leonie schließlich, wie sie sich damit fühlt, nicht nach Hause zu fahren.

Sie berichtet von ihren Schuldgefühlen und der Sorge, nun keine „gute Tochter“ mehr zu sein, da sie die Eltern zu diesem wichtigen Familienfest allein lässt. Dabei wollte sie doch eben dadurch, dass sie nicht nach Hause fährt und damit die Eltern vor einer möglichen Ansteckung schützt, es besonders gut machen. Warum die Eltern dies nicht anerkennen würden, fragt eine wütende Leonie trotzig.

Ob es sein könne, dass es ihr selber schwerfalle, dies anzuerkennen, frage ich die junge Frau. Und ob sie eine Idee habe, warum es ihr so wichtig sei, dass die Eltern sie bezüglich ihrer Schuldgefühle entlasten. Wieder Tränen. Und eine lange Pause. Manchmal können Schuldgefühle einen Menschen schachmatt setzen, denke ich. 

Schließlich beginnt Leonie zu erzählen. Von dem Vater, der seit jeher cholerisch ist und vor dem sie als Kind oft Angst hatte. Diese Angst gebe es noch heute, gibt Leonie zu, aber so groß wie ihre Angst sei auch ihr Verantwortungsgefühl der Mutter gegenüber, die meist Adressatin der Wut des Vaters ist. Ihr habe die Mutter stets leid getan, wenn der Vater sie verbal angegangen sei. Einmal habe er die Mutter auch geschlagen. Damals sei Leonie 13 gewesen und bis heute quälen sie ein schlechtes Gewissen und Versagensgefühle, weil sie der Mutter nicht habe beistehen können. Zu groß sei ihre eigene Angst vor dem Vater gewesen. Und so fühle sich Leonie seit Jahren verantwortlich. Für die Stimmung zu Hause. Dafür, den Vater zu besänftigen und dadurch die Mutter indirekt von seinen Attacken zu schützen. Letztlich für all die ungeklärten Konflikte der elterlichen Beziehung. Gerade jetzt zu Weihnachten seien der innere Druck – eine Mischung aus Angst, Ohnmacht, aber auch Verantwortung einerseits und Sehnsucht nach einer heilen Familie, die Schutz und Halt vermittelt, andererseits – besonders stark. All die Jahre habe sich die junge Frau hin- und hergerissen gefühlt zwischen diesen Gefühlen und Anforderungen. Wir nehmen uns Zeit, um dies genauer zu verstehen und reden viele Sitzungen darüber. 

Seelische Prozesse haben ihr ganz eigenes Tempo und es bringt meiner Erfahrung gar nichts, diese zu beschleunigen oder überspringen zu wollen. Psychotherapie ist kein Selbstoptimierungsprozess. Auch einer der Gründe, weshalb ich meinen Job so mag. 

Letztlich erkennt Leonie, dass es ein eigener innerer Konflikt ist, der es ihr bisher unmöglich gemacht hat, eine Haltung einzunehmen und diese auch nach außen zu vertreten. Denn sie fühlt sich auf der einen Seite verantwortlich für die Eltern, hier v.a. für die Mutter, die sich offenbar nicht vor den Attacken des Vater schützen oder sich von ihm trennen kann. Bereits als Kind hat Leonie einen Teil dieser Verantwortung übernommen. Dass ihr die Mutter nicht nur leid tut, sondern sie auch wütend auf diese ist, spürt sie bisher nur am Rande. Ihr Groll richtet sich hauptsächlich gegen den Vater, dem sie sich bis heute hilflos ausgeliefert fühlt. Auf der anderen Seite möchte sich Leonie aus dieser schwierigen Position befreien, möchte Abstand zu den seit jeher ungeklärten Problemen der Eltern. Probleme, die sie weder zu verantworten hat, noch jemals wird lösen können. Eine Seite voller Vitalität, die die junge Frau ins eigene Leben jenseits ihrer Herkunftsfamilie drängt. Wären da bloß nicht die schlimmen Schuldgefühle!

Und hier schließt sich der Kreis, wenn Leonie verkündet, dass sie dieses Jahr Weihnachten (leider) nicht zu ihren Eltern fahren kann, weil sie diese vor einer möglichen Ansteckung schützen will. Die Sorge vor einer Gefährdung der Eltern ist eben nur ein Teil des inneren Geschehens. Der andere Teil besteht darin, dass Leonie und v.a. ihr Gewissen entlastet ist. Denn die Reduzierung von Besuchen wird ja sogar von der Regierung empfohlen! So kann sie endlich den schon lang ersehnten Abstand zu den Eltern herstellen und sich damit auch noch gut und richtig fühlen. Ganz ohne Schuldgefühle. Soweit wohl die unbewusste Strategie.

Diesen Vorgang, den eigenen inneren Konflikt auf etwas Äußeres zu verschieben, nennt man Externalisierung und er gehört zu den häufigsten Abwehrmechanismen. Wir alle externalisieren von Zeit zu Zeit eigene Konflikte, es entlastet uns – zumindest kurzfristig.  Unerträgliche, unbefriedigende oder bedrohliche innere Anteile des eigenen Selbst bleiben dadurch im Unbewussten, und bereiten uns zumindest bewusst keine Schwierigkeiten. Wenn ich z.B. zu spät losgefahren bin zu einem wichtigen Termin, entlastet es mich, wenn ich auf den langsamen Autofahrer vor mir schimpfe und ihn für meine Verspätung verantwortlich mache, statt mich selbstkritisch zu fragen, warum mein Zeitmanagement so schlecht ist. Dazu kommt, dass mich im Auto niemand hört, wie ich den Vordermann wiederholt als „Schnarchnase“ beschimpfe und so auch nicht mit meinem Verhalten konfrontiert werde. Die Externalisierung ist also absolut alltagstauglich und kann zuweilen sehr befreiend wirken. Problematisch wird es dann, wenn wir damit nur scheinbar – eben äußerlich – einen für uns wichtigen Konflikt klären, ohne das eigentliche Thema zu verstehen und als eigene Aufgabe anzunehmen. 

Für Leonie wäre es sicher angenehm gewesen, wenn die Eltern ihr Fernbleiben einfach akzeptiert hätten. Doch die Eltern brauchen ihre Tochter mehr als Leonie bis dahin bewusst war. Die Mutter braucht ihre Tochter nicht nur als heimliche Verbündete gegen den Vater, sondern dieser auch die Tochter, da er sich in ihrer Gegenwart tatsächlich etwas besser kontrollieren kann. Wir können davon ausgehen, dass sich der Vater mit seinem Verhalten auch nicht wohl fühlt, er es aber allein nicht verändern kann. Und so kann die Familie zumindest einen Tag im Jahr so tun als sei alles in Ordnung. 

Die Abwesenheit der Tochter an Weihnachten lässt diese Blase platzen und wirft die Eltern auf sich zurück. Womöglich werden sich diese mit ihren Problemen  auseinandersetzen und lang verdrängte Gefühle zulassen müssen. Und überlegen, was sie als Paar noch zusammenhält. Die Mutter wird die Verantwortung dafür nicht mehr ihrer Tochter überlassen können. Leonie will dies nicht länger, denn sie muss und darf selbst ins Leben. 

Im Nachhinein also gut für Leonie, dass es ihr die Eltern nicht leicht gemacht haben. So war sie gezwungen, den Konflikt, den sie mithilfe der offiziellen Pandemie-Beschränkungen so angenehm nach außen verlagert hatte, als ihr eigenes Thema zu begreifen und ihn dort zu klären, wo er entstanden ist. 

So hat die aktuelle Situation zwar etwas hervorgebracht und verdichtet, aber eben nur in Form eines Katalysators oder Indikators. Leonies Ablösungs- und Schuldkonflikte wurden dadurch sowohl deutlicher als auch drängender, sind aber nicht erst durch die Pandemie-Beschränkungen entstanden. Ihr Wunsch, sich aus einer schlimmen kindlichen Rolle zu befreien und ins eigene Leben zu gehen, ist sehr gesund. Die Erlaubnis dazu kann sich Leonie nur selber geben.

In diesem Sinne gilt auch fürs Seelische, was in Politik und Wirtschaft gern zitiert wird: Lasst keine Krise ungenutzt verstreichen!