· Ambivalenz ·
Es gibt Themen, die begegnen mir beinahe in jeder Sitzung. Manchmal beginnt es damit, dass jemand berichtet, sie oder er könne sich nicht entscheiden, weil die Gefühle zu einer Thematik nicht eindeutig seien. Trennen oder doch lieber heiraten, den neuen Job oder Weltreise, sich von den Eltern ablösen oder das liebe Kind bleiben? Viel Für und Wider, keine Eindeutigkeiten und keine Antworten. Stattdessen Gefühle, die sich widersprechen und einfach nicht für Klarheit sorgen wollen.
Vielen Menschen scheinen solche Ambivalenzen (also das gleichzeitige Bestehen von sich widersprechenden Gefühlen, Bedürfnissen, Gedanken) unter Druck zu setzen oder sogar Angst zu machen. Vielleicht, weil sie dadurch sich selbst als widersprüchlich und manchmal als schwach erleben. Sie haben das Gefühl, nicht handlungsfähig zu sein, nichts entscheiden und nichts versuchen zu dürfen.
Dabei kennen wir doch alle solche oder ähnliche Gedanken und Sorgen. Wir alle haben uns schon vom Leben überfordert gefühlt, wenn die verschiedenen Gefühle und Gedanken nicht zueinander passen wollen und wir dadurch verunsichert sind.
Die gute Nachricht ist: das Erleben von Ambivalenzen ist kein Ausdruck von Schwäche, sondern eine Fähigkeit! Nehmen wir als Kinder die Welt und die Menschen um uns herum noch vorrangig als gut oder schlecht, richtig oder falsch wahr, differenziert sich diese Wahrnehmung im Lauf des Heranwachsens und wird vielschichtiger. Wir machen die Erfahrung, dass derselbe Mensch sowohl nette als auch unangenehme Seiten haben kann. Dies betrifft auch uns selbst. Die meisten von uns verfügen sicher über viele tolle Eigenschaften, aber es gibt auch jene, die wir nicht mögen oder für die wir uns sogar schämen. Die Akzeptanz, dass es diese früher erlebte Eindeutigkeit nicht gibt, ist folglich ein wichtiger Entwicklungsschritt. Dazu bedarf es der Fähigkeit, eigene Widersprüche und Spannungszustände auszuhalten. Gar nicht so leicht und ganz schön kompliziert!
In der Psychotherapie nennt man die Fähigkeit, Ambivalenzen wahrzunehmen und auszuhalten, Ambivalenztoleranz und sie gilt als ein Maß für seelische Stärke.
Womöglich entspringt der Wunsch nach Eindeutigkeit einer unbewussten Sehnsucht nach Sicherheit und Orientierung, wie wir sie als Kind erlebten oder uns gewünscht hätten. Je unübersichtlicher wir unser Leben, unsere Beziehungen, vielleicht die ganze Welt wahrnehmen, desto eher sehnen wir uns nach einfachen Antworten. Die Eindeutigkeit, so menschlich der Wunsch danach auch ist, lässt sich jedoch nicht erzwingen und eine Fixierung darauf führt in der Regel irgendwann zu seelischem Leid.
Manchmal ist es schmerzhaft, sich von solchen Wünschen zu verabschieden. Aber es geht und führt dann zu einer deutlichen Entlastung!
Und das Beste: haben wir akzeptiert, dass wir, die Menschen um uns herum und die Dinge, die uns gerade beschäftigen, widersprüchlich sein dürfen, können wir bewusste und mutige Entscheidungen treffen.
Ist der Text schon fertig, oder soll ich noch weiterschreiben… hm, kann mich nicht entscheiden….ach, ich überlege lieber noch mal…….?!
Oh, das tut mir aber gut, solches zu lesen! Werde ich doch mitunter von Freunden ob meiner Ambivalenzen durchaus auch ein wenig belächelt. In der Philosophie las ich kürzlich einen kleinen Band von Thomas Bauer, der davon schreibt, wie wichtig es für uns Menschen ist, es auszuhalten, daß man im Leben immer von mehreren Standpunkten aus beurteilen kann.