· Psychotherapie inside ·

Die Therapeutin aus dem Buch hat mich irgendwie an Sie erinnert, gesteht mir Hanna, eine Patientin, mit der ich häufig über die von ihr gelesenen Romane und weiblichen Protagonistinnen spreche. Oft identifiziert sich Hanna mit diesen, fühlt  sich getröstet, ermutigt oder einfach verzaubert. Bücher inspirieren sie und wir reden darüber, welche psychologische Wirkung und Funktion diese für sie besitzen. Lange Zeit fungierten diese Heldinnen als geliehene Identität, an denen sich Hanna orientieren konnte. Mit ihnen konnte sie sich stellvertretend aus Krisen heraus entwickeln und etwas Neues, Kreatives, Schöpferisches bilden. Nun schafft sie dies meist selbst.

Bereits Alfred Adler, ein früherer in Teilen kritischer Wegbegleiter Sigmund Freuds, erkannte schöpferische Kraft als zentralen Wirkfaktor, der unsere Persönlichkeitsentwicklung beeinflusst und uns Krisen, Minderwertigkeitserleben, aber auch Alltagsherausforderungen bewältigen lässt. So lassen sich neurotische Symptome ebenfalls als schöpferischen Akt verstehen, wie auch der therapeutischen Prozess an sich. Die Seele sucht sich unbewusst oft kreative Lösungs- und Ausdrucksmöglichkeiten, um unerträgliche und überfordernde Gefühle, Konflikte oder Traumata daran zu hindern, in unser Bewusstsein zu drängen.

So habe ich z.B. noch nie erlebt, dass eine seelische Symptomatik keinen tieferen, auf die zugrundeliegende Problematik bezogenen, logischen Sinn ergab. Diesen Sinn zu verstehen und mit den Patienten eine andere Möglichkeit der Bewältigung zu entwicklen, ist letztlich Inhalt einer psychodynamischen Psychotherapie. 

Und diese psychotherapeutischen und damit immer allzu menschlichen Prozesse der Konflikt- und Krisenbewältigung  beschreibt Lori Gottlieb in ihrem Bestseller Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden, erschienen im Hanser-Verlag. Das Buch stand wochenlang in der Top-Ten der New York Times und auch hierzulande erfreut es sich großer Beliebtheit.

Das Besondere ist, dass die Autorin sowohl im Therapeutensessel Platz nimmt als auch selbst auf der Couch liegt. Die ausgebildete Psychotherapeutin begibt sich nämlich selbst in Behandlung, nachdem sich ihr Partner überraschend von ihr trennt und sie in ein depressives Loch fällt.

Mit viel Humor, Tiefsinn, Warmherzigkeit und fachlich (überwiegend) korrekt beschreibt sie all die Auf und Abs, die solch individuelle, unvorhersehbare Prozesse begleiten. Schonungslos offen erzählt sie von eigenen Ängsten, Fantasien und Unsicherheiten, von inneren Konflikten und blinden Flecken. Vor allem vom Mut, den es braucht, hinter die Kulissen einer vordergründigen Symptomatik zu schauen und dabei sich selbst zu begegnen. 

Die Methode der hier dargestellten Psychotherapie würde ich als tiefenspychologisch fundiert beschreiben, die gemeinsam mit der Psychoanalyse zu den psychodynamischen Therapien gehört und schon lange als anerkannte Therapieverfahren gelten und somit auch von allen Krankenkassen bezahlt werden.

Bemerkenswert ist, wie liebenswert die Autorin ihre Patienten beschreibt und wie viel Menschlichkeit in den Geschichten rund um Tod, Trennung, falschen Lebensentscheidungen und Sinnkrisen steckt.

Lori Gottlieb weiß, wie man Geschichten erzählt und kennt sich aus mit Dramaturgie, Spannungsbogen und Sprache. Sicherlich kommt ihr dabei zugute, dass sie vor ihrer Psychotherapie-Ausbildung Drehbuchautorin in Hollywood war.

Daher kann ich es ihr auch nachsehen, das manches fachlich etwas gewagt dargestellt wird. Ob dies nun immer dem therapeutischen Abstinenzgebot entspricht, sei mal dahingestellt. Ich verstehe das Buch vorrangig als gute Unterhaltung mit leichtfüßiger Wissensvermittlung.

Auch ahne ich, dass ein Grund für ihren Erfolg dem Umstand geschuldet ist, dass sie so viel Privates von sich Preis gibt. Sie spielt mit den Fantasien, die Patienten über ihre Therapeuten haben, aber normalerweise nicht beantwortet bekommen. Ich kann mir vorstellen, dass neben einem voyeuristischen Vergnügen, dem hier munter gefrönt werden kann, es auch etwas Tröstliches hat, wenn man hautnah miterlebt, dass auch Psychotherapeuten nicht perfekt sind und kein ausschließlich glückliches, konfliktfreies Leben führen. 

Schon länger gibt es eine Imperfekt -Bewegung, in der Menschen sich bewusst ungestylt und zuweilen sogar unvorteilhaft in den sozialen Medien darstellen. Ungeschminkt zeigen sie sich mit all ihren Schwächen und bekommen dafür Anerkennung. Inwieweit dies nun als neue Art der Selbstinszenierung kritisch betrachtet werden muss, bleibt abzuwarten. 

Zuallererst sehe ich dahinter ein gesellschaftliches Aufbegehren gegen den Selbstoptimierungsanspruch, der in den vergangenen Jahren nahezu überall Einzug erhalten hat. Zuweilen hat er Menschen dazu verführt, zu glauben, sie könnten alles erreichen und alles wäre möglich, wenn sie sich bloß genügend anstrengten oder die richtige Methode fänden. Als ob jede Schwäche, jede eigene Begrenzung auf Faulheit oder mangelnden Willen zurückzuführen wäre.

Es gab Jahre, in denen junge, fleißige Studierende, die meine Praxis aufsuchten, allein schon deshalb zur Ruhe kamen, weil ich ihnen erklärte, dass sie hier in der Therapie nicht alles richtig machen müssten und wir uns Zeit nehmen würden, ohne Wertung und Druck zu verstehen, was sie wirklich bewegt.

Was mich aber doch noch interessieren würde und ich bisher nur von meiner Patientin erfahren habe ist, welchen Einfluss diese Art der therapeutischen Darstellung auf Patienten oder generell die Leser, die Gesellschaft hat. Welche Fantasien werden geweckt, welche Vorstellung über Psychotherapie und Therapeuten? Entsteht Neugier oder Abscheu? 

Wird der Therapeutenberuf jetzt sogar richtig cool?!