(Triggerwarnung: das Thema Seelische Traumatisierung ist Teil des Artikels)

So etwas hatte ich als Psychoanalytikerin zuvor noch nie gemacht, erinnere ich mich, als ich Bilder der Flutkatastrophe im Ahrtal in den Medien sehe, da sich das Unglück bald zum zweiten Mal jähren würde. Ich denke zurück an meinen damaligen Sommerurlaub weit weg von der Heimat und nahezu abgeschnitten von der digitalen Infrastruktur. An die Erschütterung als mich die Nachricht der Katastrophe doch irgendwie erreichte. Und obwohl ich nur wenige Bilder und Informationen zu der Flutkatastrophe hatte, ahnte ich doch, dass da eine ganze Region kollektiv traumatisiert worden war. Eine Ausnahmesituation, auch seelisch!

Also tat ich etwas, was mir während meiner Zeit als Psychotherapeutin zuvor nie in den Sinn gekommen war: mitten im Urlaub kontaktierte ich einige meiner in der betroffenen Region lebenden Patient:innen, um zu erfahren, wie es ihnen geht und ob sie Gesprächsbedarf haben. Einige hatten.

In meiner Erinnerung sehe ich mich irgendwo am Strand mit zumindest etwas Netzempfang stehen, während mir Amira von den immerwährenden Sirenen erzählt, die sie nun schon seit Tagen ununterbrochen höre. Es sei wie im Krieg. Not und Verzweiflung überall. Von ihrem Heimatdorf sei nur noch eine Schlammwüste übrig, seitdem das Wasser es zerstört hat. Ihre alte Wohnung ebenfalls von Wasser und Schlamm begraben. Freunde würden noch vermisst, sie befürchte das Schlimmste. Ihre Oma habe alles verloren und nur das retten können, was sie im Moment der Flutwelle am Körper getragen hatte. Amira erzählt von ihrer Ohnmacht, vom inneren Überwältigtsein, davon, nicht recht begreifen zu können, was da passiert ist. Aber auch von ihrer Dankbarkeit, selbst nicht direkt betroffen zu sein und davon, dass ihre Familie überlebt hat.

In einem weiteren Telefonat versuchen wir Ordnung in ihre Gefühle zu bringen, trennen Fantasie von Realität, benennen die erlebte Ohnmacht und halten den Schrecken gemeinsam aus. Wir besprechen Ressourcen und Möglichkeiten der ganz direkten Entlastung. Es sind Versuche, das Unbegreifliche in Sprache zu übersetzen, damit die Geschehnisse in Amiras Seele Platz finden können und nicht zu einem abgespaltenen Trauma werden, das sie jahrelang immer wieder quälen würde.

Aber was ist eigentlich ein Trauma? 

Unter einem psychischen Trauma versteht man seelische Verletzungen, die so schwer und intensiv, in ihrem Ausmaß so katastrophal sind, dass sie das seelische Gleichgewicht in einem Maß erschüttern, welches nicht mehr zu bewältigen ist. Die Ereignisse können dann nicht in das Seelische integriert werden und bleiben unverarbeitet, manchmal auch abgespalten.

Woran merke ich, ob es sich bei dem Ereignis um eine Trauma handelt?

Das Trauma selbst löst bei den Betroffenen enormen Schrecken, intensive Ängste und Gefühle von Hilflosigkeit und Verzweiflung, manchmal auch ein inneres Erstarren aus. Die eigenen Ressourcen und Fähigkeiten zur Bewältigung von Herausforderungen, welche normalerweise zur Verfügung stehen, reichen nicht aus. Man erlebt eine erdrückende Ohnmacht; das bisherige Verständnis von sich und der Welt ist tief erschüttert, nichts scheint mehr wie es war. Der Mensch gerät in einen seelischen Ausnahmezustand.

Kann man das (neuro-)wissenschaftlich messen?

Neurowissenschaftlichen Untersuchungen zufolge kappt das Trauma die wichtige Verbindung zwischen Erinnern, echtem Begreifen und der emotionalen Bewertung, sodass traumatische Erlebnisse abgespalten und unverarbeitet bleiben. Wenn dieses in der Gegenwart wachgerufen, also getriggert, wird, durchleben Menschen die ursprüngliche traumatische Erfahrung der immer wieder neu. Das sind sogenannten Flashbacks, die kaum oder gar nicht kontrolliert werden können.

Und später?

Wenn sich Tage oder Wochen nach dem Ereignis eine sog. Traumareaktion entwickelt, verschieben sich die Symptome etwas. Besonders typisch ist ein eingeengtes Denken, welches sich auf das traumatische Erleben zentriert. Es wiederholen sich Flashbacks, die nicht selten von aggressiven Impulsen begleitet werden. Aber auch Grübeln, emotionale Leere oder Taubheit, seelischer Rückzug mit Arbeits- und Lernstörungen und in bestimmten Fällen auch Schuldgefühle und Selbstvorwürfe gehören zu dieser Phase. 

Wie lange bleiben die Symptome?

Etwa die Hälfte der Betroffenen entwickelt daraus eine sog. posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), in der sich die Erinnerungen trotz zeitlichem Abstand zum Ereignis immer wieder in Form von Flashbacks oder schlimmen Alpträumen aufdrängen. Die Betroffenen leiden unter Übererregtheit, ständiger Anspannung, Unruhe oder Gereiztheit. Körperliche Symptome sind möglich. Zudem wird durch präventiven Rückzug versucht, ein Wiederholen der auslösenden Situation zu vermeiden. Das Trauma ist zu einem eingewachsenen seelischen Splitter geworden, der jedes Mal schmerzt, wenn die entsprechende Stelle gereizt wird.

Sollten Belastungen im Leben also besser generell vermieden werden?

Ganz klar nein! Nicht jedes belastende Ereignis ist per se traumatisierend! Ganz im Gegenteil: bewältigte Herausforderungen und Schwierigkeiten unterstützen die eigene Persönlichkeitsentwicklung enorm und verstärken den Aufbau von Resilienz, also der seelischen Widerstandsfähigkeit! Deshalb sollten auch Eltern ihren Kindern nicht alle Schwierigkeiten präventiv aus dem Weg räumen, sondern ihnen zutrauen, diese selbst zu bestehen. Das macht stark und selbstsicher! Wichtig ist natürlich, dass die jeweilige Herausforderung dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst ist, sodass es überhaupt in der Lage ist, ein Problem zu lösen. Also: schwierige und belastende Lebenssituationen oder Krisen sind nicht per se schädigend und sollten deshalb auch nicht kategorisch vermieden werden. Wenn sei bewältigt werden, tragen diese im entscheidenen Maße zur Persönlichkeitsentwicklung bei!

Warum entwicklen manche Menschen, die ein Trauma erlebt haben, eine seelische Störung, andere wiederum nicht?

Ob sich aus einem traumatischen Ereignis eine langfristige Störung entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab und ist ein komplexes Zusammenspiel aus Alter, Entwicklungsstand und psychischer Stabilität zum Zeitpunkt des Ereignisses. Es macht einen großen Unterschied, ob bereits im frühen Kindesalter Traumata, wie z.B. ein wiederholender Missbrauch, erlitten werden oder ob ein gesunder Erwachsener eine einzelne traumatische Situation erlebt.

Du erkennst Dich gerade selbst wieder in den dargestellten Symptomen oder erinnerst Dich an traumatische Ereignisse?

Das wäre nicht verwunderlich. Man schätzt, dass etwa zwei Drittel der Menschen aus einem Industrieland irgendwann in ihrem Leben traumatischen Erlebnissen ausgesetzt sind. Deshalb sollte über das Thema angemessen und differenziert aufgeklärt werden. Während es früher noch gar kein Wissen und auch keine Begrifflichkeit für seelische Traumatisierung gab – man erinnere sich nur an die heimkehrenden Soldaten des zweiten Weltkriegs, die zu großen Teilen traumatisiert waren, aber nicht behandelt wurden – wird heute v.a. in den sozialen Medien der Traumabegriff fast inflationär gebraucht. Nicht jeder benötigt psychotherapeutische Unterstützung, aber sollte es doch so sein, gibt es berechtigten Grund zur Hoffnung, denn Traumastörungen lassen sich mit den Mitteln der Psychotherapie gut behandeln!

Und Amira?

Die Flutkatastrophe ist kein Thema mehr und auch Sirenen lösen keine übermäßigen Ängste mehr in Amira aus. Wir sind zurückgekehrt zu den Themen, mit denen sie aktuell beschäftigt ist – und das ist vor allem die baldige Geburt ihres ersten Kindes!

Rückblickend bin ich froh, diese – für eine Psychoanalytikerin eher untypische – Eigeninitiative ergriffen zu haben. Den Patient:innen, die das Angebot angenommen haben, hat es vielleicht wirklich dabei helfen können, dass sich eben kein bleibendes Trauma entwickelte.